Tuesday, 7 September 2010

Camera Austria - Milk Drop Coronet 30 Ausstellungen zur Virtuosität des Dinglichen



Eröffnung:
Samstag, 25. September 2010, 12:00 Uhr
Dauer der Ausstellung: 26. 9. 2010 – 9. 1. 2011


KünstlerInnen:
Thomas Bayrle (D), Walead Beshty (GB), Björn Braun (D), Agnieska Brzeżańska (PL), Natalie Czech (D), Jeanne Faust (D), Hans-Peter Feldmann (D), Aurélien Froment (F), Sylvia Henrich (D), Horáková + Maurer (CZ/A), Susan Howe / James Welling (USA), Margarete Jakschik (PL), Annette Kelm (D), Herwig Kempinger (A), Heinz Peter Knes (D), Ernst Koslitsch (A), Tatiana Lecomte (F), Jochen Lempert (D), Ulrike Lienbacher (A), Lotte Lyon (A), Eva Maria Ocherbauer (A), Markéta Othová (CZ), Michael Schmidt (D), Gregor Schmoll (A), Roman Schramm (D), Stefanie Seufert (D), Dirk Stewen (D), Josef Strau (A), Barbara Trautmann (D), Susanne Winterling (D)

1957 veröffentlicht Harold Edgerton jene berühmte Fotografie, die den Aufprall eines Milchtropfens festhält. In dieser Fotografie existiert keine Zeit, kein Eindruck von Gewicht oder Schwerkraft. Das Bild friert einen Moment zwischen Bewegung und Stillstand, zwischen Stabilität und Instabilität ein und hält diesen Übergang in der Schwebe
Wie verhält es sich mit dieser Beziehung zwischen Stabilität und Instabilität heute? Wie lässt sich mit fotografischen Mitteln ein Bild erzeugen, in dem die Dingwelt in ihrer Erscheinungsweise aus dem Gleichgewicht oder in ihren Gewichtungen verschoben erscheint? Wie lassen sich Prozesse von struktureller Veränderung und Wandlung fotografisch sichtbar machen?
Diese Fragen tauchen vermehrt in aktuellen künstlerischen Projekten als grundlegende Formfragen wieder auf, verknüpft mit Debatten über mögliche Anschlussstellen an ästhetische Projekte der Nach-Moderne – etwa an die Neue Sachlichkeit mit ihrer Fixierung auf Struktur und Form oder an surrealistische Ästhetiken der Verrätselung und Metaphorisierung der Dingwelt. Dabei scheint es um die Darstellung von elementaren Formen und Figurationen und den ihnen inhärenten Bruchstellen zu gehen: ephemere Erscheinungen und Zustände, die sich in einem fremdartigen und doch emblematischen Moment zu einer spezifischen Form verdichten. Nicht die Offenlegung oder die Ästhetisierung des Wirklichen ist dabei das Ziel, sondern die nach wie vor umstrittene Frage des Verhältnisses von Sichtbarkeit und Wirklichkeit.

In dreißig Tischvitrinen zeigen die teilnehmenden KünstlerInnen jeweils ihre Ausstellung für "Milk Drop Coronet". Die dadurch geschaffene "Lesesituation" ermöglicht eine Form der vertiefenden Betrachtung, die sich deutlich unterscheidet von einem "abscannenden" Blick über Ausstellungswände. Der limitierte Raum und in vielen Fällen die Konzentration auf Schwarzweißfotografie kleinerer Formate unterstreicht den experimentellen Umgang der KünstlerInnen mit ihrem fotografischen Material. U.a. mit Schattenrissen, Doppelbelichtungen, Fotocollagen und Fotogrammen, aber auch mit einer deutlichen Tendenz zur Entfärbung des fotografischen Bildes kommen gegenwärtig wieder vermehrt jene Techniken zum Einsatz, mit denen nicht nur eine Betonung von Formen und Figurationen im Bild möglich wird, sondern eine gleichsam atmosphärisch-übersteigerte, spekulative Darstellung der Dingwelt.
Die ausgewählten KünstlerInnen machen sich die Methode einer "unsachlichen Sachlichkeit" zueigen, deren Logik zwischen versteckter Andeutung und lapidar-offenem Zeigen zu liegen scheint, wodurch ein ständig zu erneuernder Umgang mit klassischen Repräsentationsfragen angesprochen wird, an die die Fotografie gebunden bleibt.

Gerade in den visuellen Medien verhindern unzählige unwichtige Informationen oftmals, die wichtigen zu registrieren – ein Phänomen, das der Soziologe Pierre Bourdieu als "Verstecken durch Zeigen" bezeichnet hat. Gleichzeitig hat dieses Phänomen für Bourdieu politische Konsequenzen, weil das Gewöhnliche das Wichtige, weil die Spektakularisierung der Banalität das Interesse an unmerklichen Änderungen verdeckt und die Welt in eine unzusammenhängende Abfolge von unverständlichen Momentaufnahmen verwandelt wird. Oder, wie es Alain Badiou ausdrückt: "Dies ist es, was in allen Künsten das formale Prinzip bestimmt: Die Fähigkeit, für alle das sichtbar zu machen, was für die Medien und den Kommerz und somit ( . . . ) für alle nicht existiert."

Die KünstlerInnen der Ausstellung scheinen durch den Einsatz ihrer formalen Mittel und mit ihren Bildern also eine Gegenstrategie zu verfolgen: Sie Zeigen durch Verstecken – sie entschleunigen damit das Lesen der Bilder und verweigern eine rein oberflächliche Orientierung am Dargestellten. In gewisser Weise folgen sie Bourdieus Forderung, das Gewöhnliche ungewöhnlich zu machen, es so zu schildern, dass sichtbar wird, wie außergewöhnlich es ist – wie der stillgestellte Milchtropfen in Edgertons Fotografie.

Der Anknüpfungspunkt an das Leitmotiv des steirischen herbst 2010 – "Meister, Trickster, Bricoleure" – besteht nicht zuletzt im Ausstellungsdispositiv der dreißig Tischvitrinen als dreißig "Ausstellungsräume": ein Terrain des Zeigens und Sehens, dass sich von der Konvention des White Cube deutlich absetzt und die BesucherInnen zugleich intim wie zerstreut in die sowohl formale wie bildpolitische Debatte durch die und zwischen den gezeigten Positionen verstrickt. Wieviel Virtuosität müssen die BetrachterInnen aufbringen, um den "Text" der Ausstellung herzustellen? Indem die "Ausstellungen" an der feinen Grenze zwischen Sehen und Wissen, Geschichte und Ästhetik, Kontingenz und Emblematik, Sachlichkeit und Verrätselung changieren, stellen sie auch die traditionellen Zuschreibungen der Fotografie als eine Technik des Zeigen und Sehens in Frage, damit aber auch die Spielregeln des Erkennens, Deutens und Verstehens.